Freitag, 29. März 2024
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Kopfbedeckungen, Kleidung & Toleranz

"Berlin trägt Kippa"

/// Kolumne /// – Nach einem tätlichen Angriff auf einen Kippa-Träger in Prenzlauer Berg, wird der in Berlin seit langer Zeit aufgekommene Antisemitismus beklagt. Auch wenn es eine geplante Aktion war, bei der ein Israeli arabischer Abstammung sich versuchsweise eine Kippa aufgesetzt hatte, aus der Aktion hat sich eine wichtige Debatte entwickelt. Der Täter hat sich inzwischen der Polizei gestellt, ihn erwartet eine harte Strafe wegen eines möglichen Haßverbrechens, das per Smartphone-Video dokumentiert wurde.

Um dem antijüdische Hass und dem Antisemitismus entgegen zu treten wird zu Protestaktionen aufgerufen. Der Rat wird gegeben, aus Solidarität auch eine Kippa zu tragen. Die Aktion „Berlin trägt Kippa“ ruft dazu auf.

Dagegen warnte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster im RBB öffentlich davor, „sich offen mit einer Kippa im großstädtischen Milieu“ zu zeigen. Er sieht die Aktion „Berlin trägt Kippa“ zwar als Wendepunkt in der öffentlichen Debatte, rät jedoch davon ab, als Einzelperson eine Kippa zu tragen.

Selbstbewußte Juden kritisieren Schuster inzwischen scharf und wenden dagegen ein, es wäre ein Zeichen von Angst sich zu verstecken. Doch wie soll man sich nun mit einander widersprechenden Ratschlägen verhalten?

Grunsätzlich: Wie soll damit umgegangen werden, wenn Kopfbedeckungen als religiöse Symbole in der Öffentlichkeit Hass und Erregung und Gewalttaten auslösen? Wie stehen Kopfbedeckungen, Kleidung und Toleranz in der Öffentlichkeit überhaupt in Beziehung?

Moderne Zivilisation, Toleranz und Öffentlichkeit

Zu den wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation gehört die staatliche (säkulare) und alltagstaugliche Entwicklung des Toleranzbegriffes.

„Toleranz […] bezeichnet allgemein das Dulden oder Respektieren von Über­zeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits als falsch und normabweichend angesehen werden, andererseits aber nicht vollkommen abgelehnt und nicht eingeschränkt werden.“

Toleranz machte es möglich, dass sich Menschen verschiedener Herkünfte und Religionen in der Öffentlichkeit einer Stadtgesellschaft friedlich zusammenfinden, miteinander leben, arbeiten und Handel treiben, und Kulturleben entfalten.

Die Goldene Regel in allen Religionen

Die Goldene Regel hält die Stadtgesellschaften zusammen, sie taucht auch in den großen Religionen Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus und Hinduismus auf: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Im Islam ist sie als Wort vom Propheten Mohammed überliefert: „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“ In der Bibel, im Neuen Testament, Matthäus, 7, 12 heißt es „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.“

Entgrenzung der Kommunikation in der Mediengesellschaft & Ära der Massenkommunikation

In der modernen Zivilisation steht die Goldene Regel nicht mehr allein zwischen den Menschen. Medien zeigen Nachrichten und Konflikte an, und erzeugen direkte Emotionen, die die Goldene Regel in den Hintergrund drängen.

Der politische Kampf um Medienöffentlichkeit und Dispute in sozialen Medien schaukeln leicht Emotionen und Konflikte hoch. Auch ideologische und missionarische Kämpfe werden über soziale Medien geführt, um Menschen zu beeinflussen, zum Eifer und zum Hass anzustacheln. Indoktrination und Radikalisierung über Medien und das gesprochene Wort schaffen eine Krise, in der Öffentlichkeit kein konfliktfreier Raum mehr ist. Medienöffentlichkeit und öffentlicher (physischer Raum) wachsen im Erleben der Menschen in der Stadt zusammen, obwohl sie völlig andere Sphären sind. Zeichen und Symbole bekommen plötzlich so etwas wie Eigenleben.

Kopfbedeckungen, Kleidung und religiöse Symbole werden zum einfachen Anlaß, um in der Öffentlichkeit als „feindlich“ angehene Menschen anzugreifen, und die Goldene Regel zu verletzen.
Mal ist es die Kippa, mal die verschleierte muslimische Frau, oder die religiöse Minderheit der Sikhs, die wegen ihres „Dastar“, der religiösen Form des Turbans, mit Arabern verwechselt und angegriffen werden.

Offensichtlich werden Grenzen überschritten, zuerst in Form entgrenzter Kommunikation über Medien und soziale Medien, danach auch in der Öffentlichkeit oder abgelegenen öffentlichen Orten und Zugängen zu Bahnhöfen, wo Menschen zu Opfern und Tätern werden. Offensichtlich werden neue Regeln benötigt, um Medienöffentlichkeit und öffentlichen Raum unterscheidbar zu halten.

Wenn die Goldene Regel der Religionen mißachtet wird – müssen andere Regeln her!

In der modernen multikulturellen und offenen Gesellschaft ist steht jedem Mensch Schutz, Gleichberechtigung und körperliche und geistige Unversehrtheit zu. Wenn das Prinzip Toleranz nicht mehr funktioniert, wenn einzelne Menschen und Gruppen verfolgt, bekämpft und geschlagen werden – oder Schlimmeres, kann sich niemand in der Stadt mehr sicher fühlen.

Stadtgeellschaft, Nachbarschaften, Schulen und Gemeinschaften können nur funktionieren, wenn Die Goldene Regel als gemeinsame Übereinkunft eingehalten wird. Schwächere und Minderheiten müssen in einer toleranten Gemeinschaft von allen anderen geschützt werden – niemand darf wegen seines Aussehens oder seiner Kleidung diskriminiert, gemobbt oder geschlagen werden.

Wie aber kann Toleranz in Städten und Stadtgesellschaften entstehen und funktionieren? Es ist eine Frage, die so alt ist wie die Zivilisation. Antworten wurden schon in alten Zeiten von klugen weltlichen Herrschern gefunden – nicht von Religionsführern.

Weltliche Führer erließen wichtige Regeln und setzten rechtliche Grenzen, die das friedliche Zusammenleben regeln: die Toleranz-Edikte. Sie sind bis heute Vorbilder für „gutes Regieren“.

Brauchen wir ein neues Toleranz-Edikt für die moderne Stadtgesellschaft?

Im Frühjahr 311 hatte Kaiser Galerius in Nikomedia ein Toleranzedikt verkündet, das das Ende der Christenverfolgung im Römischen Reich einleitete.

In dem Toleranzedikt wird etwas Besonderes formuliert:
“ … so haben wir es in unserer außerordentlichen Milde und beständigen Gewohnheit, sämtlichen Menschen zu verzeihen, für notwendig gehalten, auch diesen unsere freimütigste Nachsicht zu gewähren, damit sie wieder Christen sein und ihre Versammlungsstätten wieder aufbauen könnten, allerdings so, dass sie nichts gegen die öffentliche Ordnung unternehmen.“

Damit wurde eine Grundregel eingeführt die bis heute zu den Errungenschaften von offenen Stadtgesellschaften zählt, und für alle Religionen anwendbar ist. Die öffentliche Ordnung wird so zum Ort des friedlichen Austauschs.

Das Zwei-Kaiser-Edikt im Jahre 313, auch Mailänder Edikt genannt, wurde von Konstantin I. (Kaiser des Westens) und Licinius (Kaiser des Ostens) erlassen. Es gewährte “…sowohl den Christen als auch überhaupt allen Menschen freie Vollmacht, der Religion anzuhängen, die ein jeder für sich wählt…”. Die Religionsfreiheit wurde so erstmals begründet.

Doch erst im Spätmittelalter ging es einen Schritt weiter: Heinrich IV. (Heinrich von Navarra) unterzeichnete am 13. April 1598 das Edikt von Nantes. Es gewährte den Calvinisten Gewissensfreiheit und die „freie Religionsausübung in der Öffentlichkeit“, ausgenommen in Paris und Umgebung sowie in Städten mit Bischofssitz oder königlichen Schlössern. Heinrich IV. beendete damit den Religionskrieg zwischen Calvinisten und Katholiken in Frankreich, der viel mit den heutigen Auseinandersetzungen zwischen radikalen Muslimen und Juden undr auch Christen gemein hat.

Öffentliche Propaganda wurde schließlich durch den Großen Kurfürst erstmals gestoppt. Friedrich Wilhelm von Brandenburg verkündete nach endlosen Streit zwischen Lutheranern und Reformierten das Toleranzedikt vom 6. September 1664, das „Schmähreden von der Kanzel“ verbietet und verbot so Intoleranz mit Intoleranz zu vergelten. Es ist frühes Vorbild für den heutigen Verbotsparagraphen § 130 im Strafgesetzbuch (StGB) zur Volksverhetzung.

In der modernen Mediengesellschaft haben wir inzwischen viele Öffentlichkeiten: den halböffentlichen Raum der Kirchen und Moscheen, die Stadtöffentlichkeit auf Straßen, Plätzen und Verkehrsmitteln, die Medienöffentlichkeiten – und die vielfältigen öffentlichen Sphären der sozialen Medien.

Was passiert, wenn in allen diesen Teilöffentlichkeiten unterschiedliche und gegensätzliche Regeln gelten? Was passiert, wenn die Goldene Regel nicht mehr gilt, weil Täter und Opfer oder Zielgruppe tausende Kilometer entfernt, aber trotzdem per Internet verbunden sind? Brauchen wir ein neues Toleranzedikt?

Toleranz-Edikte auf dem Weg zur Weltoffenheit

Als König Ludwig XIV. das Edikt von Nantes am 18. Oktober 1685 widerrief, flohen die aller religiösen und bürgerlichen Rechte beraubten Hugenotten zu Hunderttausenden. Die calvinistischen Gebiete der Niederlande, die calvinistischen Kantone der Schweiz und Preußen und Berlin nahmen die Glaubensflüchtlinge auf. Am 29. Oktoberjul./ 8. November 1685 erließ der Große Kurfürst das berühmte Potsdamer Toleranzedikt, das den Hugenotten im Schutz versprach:

„In einer jeden Stadt wollen wir gedachten unsern französischen Glaubensgenossen einen besonderen Prediger zu halten, auch einen bequemen Ort anweisen zu lassen, wo selbst das Exercitium Religionis Reformatae in französischer Sprache und der Gottesdienst mit eben den Gebräuchen und Zeremonien gehalten werden soll, wie es bis anhero bei den evangelisch reformierten Kirchen in Frankreich gebräuchlich gewesen.“

Dies war nicht nur eine Gleichstellung mit den preußischen Bürgern, denn den Flüchtlingen wurden großzügige Privilegien gewährt, unter anderem Befreiung von Steuern und Zöllen, Subventionen für Wirtschaftsunternehmen und Bezahlung der Pfarrer durch das Fürstentum. Die Wirtschaft des im Dreißigjährigen Krieg zerstörten Brandenburg wurde belebt, weil die Hugenotten Bildung und hoch entwickelte Berufe und Künste mitbrachten, und damit den Grundstein für die Erstarkung Brandenburg-Preußens legten.

Das Edikt von Potsdam wirkt bis heute fort, und trägt zu einer modernen Weltoffenheit bei, die heute nicht nur Hugenotten, sondern allen Kulturen und Religionen eingeräumt und ermöglicht werden kann.

Eine wichtige Idee kam aus Österreich. Kaiser Joseph II. erließ das Patent vom 13. Oktober 1781, in dem er die nach dem Westfälischen Frieden anerkannten protestantischen Kirchen (Lutheraner und Reformierten) und den Orthodoxen in den Habsburger Kronländern erstmals seit der Gegenreformation wieder die Religionsausübung erlaubte und den Bau von evangelischen Bethäusern erlaubte, die später als Toleranzbethäuser oder Toleranzkirchen bezeichnet wurden.

Damit wurde die Religionsausübung aus der Öffentlichkeit in die Halböffentlichkeit gemeinschaftlicher Räume verlegt. Die Idee der „Toleranzbethäuser“ könnte heute den Weg weisen, zwischen den Religionen gemeinsam nach mehr Toleranz zu suchen.

Der größte und weitreichendste Schritt wurde erst nach leidvollen zwei Weltkriegen möglich. Auf der 28. Generalkonferenz in Paris von 25. Oktober bis 16. November 1995 wurde die Erklärung von Prinzipien der Toleranz von den Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet. Schon der erste Artikel formuliert ein umfassendes und universelles Konzept:

„1.1 Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“

Mit der UNESCO-Toleranzkonvention haben wir das umfassendste Projekt der Weltgesellschaft, um in allen Sphären und Öffentlichkeiten menschlicher Kultur eine Basis der Mäßigung, des Respekts und der Achtung zu schaffen. Doch setzt die UNESCO-Toleranzkonvention eine umfassende Bildung voraus – weshalb die Erziehung zur Toleranz und Mäßigung eine universelle Aufgabe ist.

Mäßigung, Demonstration und Protest mit Glaubens-Symbolen?

Die Kippa, jiddisch Jarmulke, wird von Männern aus Respekt und Ehrung vor Gott getragen, wenn sie beten, Gottes Namen während eines Segensspruches sprechen oder jüdische Studien lernen. Gleiches gilt, wenn Sie sich in einer Synagoge oder einem jüdischen Lehrhaus (Jeschiwa) aufhalten. Traditionell tragen jüdische Männer und Jungen ständig eine Kippa, als eine Art Symbol ihrer Ehrfurcht und Demut gegenüber einem „höheren“ Wesen.

Es gibt aber keine Verpflichtung, weder aus der Tora noch aus dem Talmud, die das ständige Tragen der Kippa vorschreibt, obwohl diese Praxis im Talmud beschrieben wird. Das Tragen der Kippa wurde zu einem jüdischen Brauch, und für den Großteil der halachischen (rechtlichen) Autoritäten zu einer Pflicht.

Wenn heute zu einer Aktion „Berlin trägt Kippa“ aufgerufen wird, sollte auch über falsche Aneignung, falschen Respekt und Mißbrauch von religiösen Symbolen für politische Zwecke nachgedacht werden.

Ist es klug, und trägt es zur Mäßigung bei, wenn religiöse Symbole „stellvertretend“ getragen werden? Haben wir vielleicht auch zu lernen, religiöse Symbole nicht zu mißbrauchen, um Fotos für „Medienöffentlichkeiten“ zu produzieren?

Wäre es ein besseres Zeichen, wenn alle Teilnehmenden an der Aktion ihre ganz persönliche Kleidung und ihre eigenen authentischen Kopfbedeckungen wählen?

Sind wir vielleicht erst dann reif für die weltweite Interkultur, wenn man Solidarität einfach durch Gesten, Haltungen, Präsenz, Worte und gemeinsames Schweigen zeigen kann?


Was uns Kopfbedeckungen zu sagen haben – ein Video von Fokus Jerusalem TV